Emotionale Meetings

Als Therapeut weiß ich die Kraft der Gefühle sehr zu schätzen. Allerdings die bewusste Kraft – unbewusst können Gefühle ganz schön für Aufregung sorgen.

Wer kennt das nicht: in sachlichen Meetings und besonders bei Entscheidungen lassen endlose Diskussionen erahnen, dass es eigentlich längst nicht mehr um die Sache geht. Ego’s spielen sich auf und einzelne Personen nehmen mit ihren Redebeiträgen viel Raum ein. Menschen reagieren aufeinander und ein Moderator muss durchgreifen. Damit das Meeting nicht in einen therapeutischen Raum umschlägt und es einigermassen entspannt weitergehen kann, braucht es jetzt etwas.

Ich bin bei der Soziokratie gelandet, weil sie bei all ihrer Effektivität Raum für die Menschen lässt. Genau deswegen ist sie wahrscheinlich auch so effektiv, denn schließlich sind es immer Menschen, die Dinge tun und entscheiden. Wenn alle entspannt und im emotionalen Gleichgewicht sind, dann können komplexe Entscheidungen viel besser getroffen werden.
Also brauchen wir Methoden und Organisationen die Raum für unsere Menschlichkeit lassen. Ständig neue Leute anzustellen, weil die Mitarbeiter am laufenden Band kündigen oder im Burnout landen, ist ausserdem kostspielig und aufwändig. Und eine Organisation blüht erst richtig zu Hochleistungen auf, wenn ihre Mitarbeiter sich mit ihrer Arbeit identifizieren können und mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden sind. Das haben die Soziokraten längst erkannt und lassen deshalb die Mitarbeiter ihre Organisation einfach selbst mitgestalten. Wenn jemand mit etwas unzufrieden ist, kann er oder sie ja einfach die Veränderung anstoßen. Wahrscheinlich ist diese Person auch nicht die Einzige mit dieser Spannung. Und wenn doch, dann weiss man wenigstens, das man bei sich selbst genauer hinschauen sollte, was es braucht.

Die Methoden aus dem Werkzeugkoffer der S3 haben viele kleine Räume für Menschlichkeit, Reaktionen und Wertschätzung in ihren Abläufen und Strukturen und bleiben dabei stets konstruktiv.
Besonders das Muster der Treiber hilft Konflikte und Diskussionen zu vermeiden, nicht zuletzt auch weil es von der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg inspiriert wurde (Siehe Kommentar von Stephan unten).
Im normalen Arbeitsalltag dürfte das absolut ausreichen und falls es persönliche Spannungen zum Beispiel in der Kommunikation gibt, dann kann man das einfach mal in der Kaffeepause mit der betreffenden Person ansprechen. Ausserdem gibt es das Format der Retrospektiven, indem soetwas zur Sprache kommt und auch Lösungen dafür gefunden werden können.

Wenn eine Organisation allerdings sehr weit „vermenschlicht“ ist und die Mitarbeiter so identifiziert sind, dass sie Arbeit und Freizeit gar nicht mehr so genau auseinanderhalten können, dann wird es auch zwischenmenschlich persönlicher.

Das ist natürlich besonders der Fall bei Lebensgemeinschaften, die bewusst Leben und Arbeit ganzheitlich miteinander verbinden wollen und nicht nur den Arbeitsplatz teilen, sondern auch den Essenstisch und die Feierabend-Couch und wer weiss, vielleicht ja sogar das Schlaflager.

Außerdem ziehen diese gemeinschaftlichen Wohn- und Lebensprojekte komischerweise oft Menschen an, die öfter bei anderen anecken, sich persönlich entwickeln wollen und starkes Feedback gut gebrauchen können. Kurzum: Hier nehmen emotional aufgeladene Diskussionen besonders viel Raum ein.

Der erste Trick der Soziokratie ist es, Treffen in operative und Steuerungstreffen zu unterscheiden. Strukturentscheidungen, wie neue Rollen und Kreise werden in Steuerungstreffen gefunden und was den alltäglichen Arbeitsablauf betrifft, wer gerade an was arbeitet zBsp, in operativen Treffen.

Diese Meeting-Räume inhaltlich zu trennen, nenne ich „Sozialhygiene“. Man isst ja auch nicht in demselben Raum, in dem man das Essen wieder los wird.

Soziokratie 3.0 hat einen agileren Ansatz als die ursprüngliche soziokratische Kreismethode und ist noch weniger starr. Kanban ist ein agiles projektmanagement System, was wir so einfach und gut finden, das wir es überall in der S3 benutzen. Treiber, Themenpunkte und To-Do’s kommen auf die „Backlogs“ von unterschiedlichen Kanban Brettern für die jeweiligen Treffen, virtuell oder an der Wand.
Meine Freundin aus der globalen S3-Community Nara Pais von BioInspiral in Brazilien hat diese Idee auch für emotionale Spannungen und Themen angewandt:

Der emotionale Backlog

Man kann einfach ein Kanban Board benutzen um emotionale Dinge auf Klebezetteln anzupinnen. Im Moment einer hitzigen Diskussion oder eines persönlichen Konflikts zum Beispiel kann man anstatt die Sache weiter versuchen auszudiskutieren, kann jemand (oder der Moderator) das Thema auf den Punkt bringen und als Klebezettel auf dieses Brett kleben. Damit ist die physikalische Gewissheit gegeben, das dieses Thema behandelt wird und einen Raum bekommt, aber eben nicht diesen gerade. Natürlich sollte man auch regelmässige Treffen vereinbaren in denen der emotionale Backlog behandelt wird, sonst stauen sich die Zettel genau wie die Emotionen in uns und sorgen für prozessuale Verstopfung. Im Prinzip tragen wir alle ja einen emotionalen Backlog mit uns herum, der so genannte „emotionale Rucksack“.

Es ist unsere Verantworung uns Räume zu schaffen in denen wir diese Gefühle bearbeiten können, bzw. gleich in dem Moment wo sie entstehen so zu kommunizieren, das wir für uns und unsere Gefühle Verantwortung übernehmen.

Für sehr menschliche Organisationen und gerade für die übermässig menschelnden Lebensgemeinschaften, lautet meine persönliche Empfehlung neben der Trennung von operativen und Steuerungstreffen noch ein drittes Treffen einzuführen, wenn es nicht schon in irgendeiner Form stattfindet:

Soziale Meetings

Dieser „dritte Raum“ ist noch nicht ein offizieller Pattern von S3, ich werde das aber mal in der Community vorschlagen, nachdem ich noch ein bisschen mehr Feedback dazu gesammelt habe. Ihr könnt sehr gerne zur Diskussion beitragen mit einem Kommentar unter dem Artikel!

Für diese Treffen eignen sich natürlich alle möglichen in unserer emotionslosen Kultur eher unbekannten Methoden, von der Gefühlsarbeit nach Vivian Dittmar, über Possibility Management, hin zu den üblichen sozialen Räumen: Gemeinsam etwas trinken gehen, Fussballspielen, eine Wanderung oder Teambuilding im Hochseilgarten.

Sehr effektiv ist sicherlich eine Gesprächsrunde in der jeder nach dem anderen sagt wie es ihm gerade geht (mental, emotional, sozial, körperlich..). Das schafft Vertrauen und Verständniss. Jeder kann auch die kollektive Intelligenz der Gruppe nutzen und eine Frage in die Runde stellen um dann viele Möglichkeiten und Inspirationen von den anderen Teilnehmern zu bekommen.

Für längere Prozesse kann ich auch aus persönlicher Erfahrung die Methode der Themenzentrierten Interaktion sehr empfehlen, sie entspricht dem Prinzip der Selbstverantwortung aus der S3 und ermöglicht einen guten Flow um gemeinsam (auch emotionale) Themen zu bearbeiten.

In solchen emotionalen Treffen können alle persönlichen Spannungen vom emotionalen Backlog ausgebügelt werden, emotionaler Dampf abgelassen werden, wir fühlen uns gehört und können gefühlsmäßig entspannen. Wenn wir dafür keine integrative Praxis haben oder keine Räume, staut sich schnell eine Ladung an, die uns im Alltag und besonders bei wichtigen Entscheidungen den Prozess blockiert. Oft haben wir auch schon einen Rucksack von angestauten Gefühlen aus unserer Kindheit mit dabei, der uns, wenn die richtigen Knöpfe gedrückt werden auf die Füsse fällt. Es macht so oder so Sinn sich mit dem Thema der Gefühlsarbeit zu beschäftigen, wenn wir verantwortungsvolle Menschen sein wollen, die frei entscheiden können, wie wir auf wen reagieren.

Wir Menschen sind biopsychosoziale Wesen und da Organisationen aus Menschen bestehen, müssten auch unsere gemeinsamen Unternehmungen diese Ebenen abbilden, um wirklich nachhaltig zu sein und gut mit uns Menschen zu funktionieren. Je menschlicher unsere Organisation sein soll, umso weniger darf die emotionale Ebene ignoriert werden.

Ich denke wir können unser volles gemeinsames Potential nur ausschöpfen, wenn wir auf allen Ebenen ausgeglichen sind. Natürlich obliegt es in erster Linie jedem selbst, dafür Verantwortung zu tragen und nicht in der Organisation oder bei anderen Menschen Heilung zu suchen, sondern bei sich selbst anzufangen. Sport und Meditation zum Beispiel sind ja bewährte Hilfsmittel für das persönliche Gleichgewicht. Dem emotionalen Rucksack allerdings helfen diese Praktiken nur bedingt, denn er kann sich nur oberflächlich entladen. Wir werden in unserem Leben von Menschen und Organisationen angezogen, die uns unsere Baustellen spiegeln und uns mit inneren und externen Konflikten konfrontieren werden. Da uns aber oft die Kultur und Praxis des Umgangs damit fehlt, sollten wir unsere gemeinschaftlichen Räume so gestalten, dass sie unserem ganzen Wesen dienen. Gefühle sind eine sehr wichtige Informationsquelle für uns Menschen, oft fehlt uns nur der konstruktive Umgang mit diesen Informationen. Besonders in solchen Treffen, mit dem Fokus auf Gefühle, können wir diesen Umgang lernen.

So ein emotionaler Raum lässt sich natürlich auch mit Freunden oder sogar Fremden außerhalb der Arbeit organisieren. Zum Beispiel mit einer Artabana Gruppe, die auch gleichzeitig als solidarische Krankenversicherung fungiert (Ist aber leider noch nicht gesetzlich anerkannt). Oder in einem Possibility Team oder Possiblity Lab.

Übrigens für die Selbstorganisation von Artabana Gruppen, kann ich den Methodenkoffer der S3 auch nur wärmstens empfehlen, denn auch hier müssen dauernd Entscheidungen getroffen und Rollen verteilt werden. Da bei Artabana die Menschen im Mittelpunkt stehen, eignen sich die menschlichen Methoden der S3 dafür hervorragend.

Kommunikation

Ich formuliere mal eine steile These: Wer eine gute Kommunikationskultur im Alltag pflegt, der braucht vielleicht all diese Muster nicht. Weder Soziokratie noch explizit emotionale Räume.

Soziale Krücken hin oder her, sind diese Muster natürlich immer hilfreich in jedem Kontext in dem wir mit Menschen oder sogar nur mit uns selbst zu tun haben. Dafür habe ich natürlich noch ein paar Empfehlungen:

Gewaltfreie Kommunikation

Indem ich Interpretationen, Bewertungen und Anschuldigungen vermeide und meine subjektiven Standpunkte als solche deklariere und Bedürfnisse klar formuliere übernehme Ich Verantwortung für mich und meine Anteile und gebe meinen Gegenübern die Souverenität darauf zu reagieren. Gewaltfreies zuhören gehört dabei allerdings ebenso dazu. Also zu versuchen sich mit gehörten Bewertungen nicht zu identifizieren und die Bedürfnisse dahinter rauszuhören und durch nachfragen heraus zu finden.

Spiegeln

Das Gehörte direkt in exakt den gleichen Worten wiederzugeben hat einen erstaunlichen Effekt: Das Gegenüber fühlt sich gehört und Gefühle können sich entladen. So trivial und albern sich das vielleicht anhört und fühlt, es funktioniert einfach immer, versprochen. Ihr könnt auch andere Personen dazu einladen das für euch zu machen, wenn ihr spürt das sich eine Ladung aufgebaut hat, die raus muss. Das schlimmste was man machen kann ist diese Ladung dann runter zu schlucken. Aus meiner Arbeit auf Psychosomatischen Stationen in Krankenhäuse kenne ich viele Beispiele wie dann der eigene Körper deutliche Signale schickt dort hin zu schauen.

Wutarbeit

Wut ist ein super Treibstoff! Mit ihrer feurigen Qualität ist sie dazu da um Dinge zu transformieren, wenn wir sie verantwortungsvoll einsetzen. Wenn ich mich zum Beispiel eigentlich über ein Muster von mir selbst aufrege, dann kann ich die Wut dafür einsetzen anders zu handeln. Oder zum Aufräumen, Putzen, Holz hacken. Sämtliche Dinge in unserem Leben lassen sich mit einer Prise Wut in Klarheit transformieren, innerlich und äusserlich.
Eine andere Qualität der Wut ist es Grenzen zu setzen. Mit dem notwendigen Level an Wut werden diese auch meißtens respektiert, dieses Level ist aber warscheinlich höher als gewohnt, besonders wenn Grenzen für uns ein Thema sind.

Auch alle anderen Gefühle lassen sich konstruktiv und Verantwortungsvoll einsetzen, aber das führt wirklich über diesen Blogartikel hinaus.

Normalerweise gehe ich nicht so sehr auf diese Aspekte ein, da sie den Rahmen eines normalen S3 Workshops sprengen. Ich würde aber sehr gerne mit einer Gruppe im vorher auch klar so definierten emotionalen Raum arbeiten. Falls ihr Interesse habt, dann kontaktiert mich doch einfach und wir schauen gemeinsam was eure Gruppe braucht!

3 thoughts on “Emotionale Meetings

  • Hallo, und Danke für denn neuen Blickwinkel auf das Thema.
    Beim lesen viel mir ein das die Gewaltfreie Kommunikation nach M.B. Rosenberg und S3 eine spannende Kombination sein könnte. Nicht nur weil die GFK einen dabei unterstützt Selbstverantwortung für sich zu übernehmen.

    • Hey Stephan,
      ja ich kann die GFK auf jeden Fall uneingeschränkt in jedem Kontext empfehlen!
      Das gute ist, S3 ist auch von der GFK inspiriert und im Konzept des „Treibers“ findest du die Essenz davon.
      https://patterns-de.sociocracy30.org/describe-organizational-drivers.html

      Wenn sich alle auf die gleichen Bedürnisse / Bedarfe einigen, bündelt das die Energie und es herrscht Klarheit. Weiterhin bringen die Treiber unglaublich viel Klarheit und Ausricht bei der Bildung und Evaluation von Vorschlägen. Sollte die Eingewöhnung von gewaltfreien Mustern in der Sprache schwer fallen, empfehle ich mal auszuprobieren mit Treibern zu arbeiten, die eignen sich nämlich nicht nur für Unternehmen, sondern auch zum Beispiel mit Kindern oder Partnern, es wirkt Wunder einfach den Treiber für eine Entscheidung am Anfang mit zu kommunizieren (ohne zu Erklären was ein Treiber ist, gute Treiber sind selbsterklärend), versprochen!

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